· 

Gewissensfrage

Mein nasses Haar erweckt Frostgefühl bis ins Innerste des Knochenmarkes. Wenn ich mich umsehe, bemerke ich saftiges Grün. Wiesen, die die undurchsichtige Wetterlage zu ihrem Vorteil nützen. Das Prasseln der dicken Regentropfen auf die tiefen Pfützen, die sich bald zu einem See zusammenschliessen, sorgt dafür, dass es für mich nicht vorstellbar ist, den sonst nicht weit entfernten Verkehr zu vernehmen. Mein Geruchssinn ist ebenfalls unbrauchbar. Was am Anfang aufgeweichte Erde war, in frische, saftige Gewächse überging, ist inzwischen neutral. Auf eine widerliche Art. Alles verschleiert.
Die Müdigkeit macht es mir unmöglich, einen klaren Gedanken zu fassen. Ich schaffe es nicht, mich aufzuraffen, aus der misslichen Lage zu denken oder zu befreien. Wohin aufbrechen, wem anschliessen? Meine Familie hatte sich vor dem grossen Desaster ein Leben an einem Ort aufgebaut, an dem ich keinen Platz abgekriegt hatte, an dem ich nicht mehr willkommen gewesen war. In der Hinsicht bin ich nicht die Einzige und ich habe mir meine eigenen Ersatzleute gesucht. Ich habe dort alles bekommen: Geborgenheit, zu essen, eine Aufgabe, Liebe. Eines Tages wollte die Chefin, dass ich mit ihr komme. Ich habe Angst vor Autos, weshalb sie mich gezwungen hat. Keine Ahnung wozu. Ich wurde herumgetragen, massiert und liebkost, trotz alledem wirkten sie verstimmt. Was strebten sie an? Misstrauisch war ich, eine Flucht indes unmöglich. Ich wurde schlagartig fürchterlich müde. Als ich wieder aufwachte, war ich kaum fähig, mich zu bewegen. Mit einer Zunge, die sich pelzig anfühlte, wachte ich ab und zu auf. Wasser stand direkt neben mir, das ich dankbar soff. In der Sonne, die gegen die Glasfront knallte, vor der ich lag, war ich eingeschlafen. Der Weg zu einem schattigen Plätzchen einen halben Meter entfernt, war unendlich weit. Das Abendessen konsumierte ich äusserst langsam. Nach einem ausgedehnten, langen Schlaf verspürte ich neue Lebenskräfte. Einen zusätzlichen Tag darauf war meine alte Energie nahezu retour. Es ging mir hervorragend, alle waren wieder da und zuvorkommend wie immer. Dieses eigenartige Erlebnis vergass ich schier.
Im Moment denke ich daran zurück und frage mich nach einem Zusammenhang. Er kommt nicht. Es entzieht sich meiner Logik, warum ich ausgeschlossen wurde. Als ob niemand mich gekannt hatte. Die Türe verschlossen, das Tor. Kein Hineinkommen, fehlende Beachtung. Von einer Sekunde auf die Andere wurde ich unsichtbar. Unbeachtet. Wie ein Nichts. Ein Luftzug. Nicht mal wie Ungeziefer behandelt.
Ich werde verhungern. Vor Kummer. Schaum habe ich an den Lippen, weil ich einen ganzen Tag und eine volle Nacht vorne draussen heulte. Schrecklich. Ein Dolch im Herz. Kribbeln in der Bauchgegend wegen der Befangenheit. Niemand kommunizierte, warum, keine weswegen. Was hatte ich bloss falsch gemacht? Kräftig bemüht hatte ich mich, meinem Job nachzugehen, freundlich zu sein. Liebe hatte ich gegeben, Liebe geerntet. Nein, verhungern werde ich nicht, jedoch vor Trauer zergehen. Der Herzschmerz wird mich zur Strecke bringen. Mein Bauch kruschelt, krummelt. Unsicherheit lassen die Nachtfalter im Ranzen hochschrecken. Den Magen konnte ich füllen, bevor ich einen letzten Halbtag heulte. Dann war der Durst so enorm, dass ich aufbrach. Es war zwecklos geworden. Als die Sonne wieder an die Mauer des Gartens briet, gegen die ich gelehnt verharrte zwischen meinen Heulkrämpfen, wurde der Höllenbrand derartig gross, dass ich Regenwasser suchte. Unterwegs kam mir dann der Blick der Chefin in den Sinn. Er war klar. Es gab kein Zurück mehr. Egal was ich unternahm oder nicht. Die Flüssigkeitsaufnahme war bald problemlos.
Vielmehr Probleme machte die Einsamkeit. Ausgestossen, ausgeschlossen. Wohin bloss? Meinen Hals kratze ich. Einen Schmuck hatte ich verpasst bekommen. Wozu das dient? Ich brauche etwas anderes. Die verheilte Wunde auf meinem rasierten Bauch lecke ich erneut. Vorne sind die Beine geschoren, was ich feststellte, als ich von diesem komischen Tiefschlaf aufwachte. Irgendetwas ist verändert.
Das Leben hat weiterzugehen. Davor funktionierte es ja. Die Genossinnen haben ihre Reviere. Ich bin gleichermassen dazu angehalten eines zu suchen. Wenn es bloss nicht dergestalt schwer wäre im Winter! Überall wo es diese schrecklichen, tödlichen Fahrzeuge gibt, ist Futter zu finden. Ich werde was aufgabeln. Schliesslich bin ich eine gelehrsame, mit Schlappöhrchen, glänzendem, kuscheligem Fell bestückte, gesunde Hündin.

 

Virtueller Hut: Du förderts so die Schreibkunst:

https://www.buymeacoffee.com/QBurg

Erhalte so exklusive Inhalte! :-)

 

Kommentar schreiben

Kommentare: 0