
Seit über einer halben Stunde stehe ich nun schon vor der Haustüre. Es ist kalt. Gott sei Dank regnet es nicht. Aber die Nässe hätte ich auch gar nicht gemerkt. Zu sehr bin ich mit Angst und Zweifel beschäftigt. Ein Hund in der Nachbarschaft knurrt und bellt. Der Geruch von Verbranntem Hausrat hängt in der Luft. Die Dämmerung hält Einzug. Mein Geist ist unruhig. Nichts ist mehr, wie es vor einer Woche war. Die ganze Welt scheint sich völlig verdreht zu haben. Vor nun gerade mal 8 Tagen war alles in seinen geordneten Bahnen. Die Rollen waren geklärt, alles war klar aufgeteilt. Nun stehe ich da und weiss nicht mal, ob ich überhaupt zu Hause klopfen kann. Ich weiss nicht, wie es meinem Sohn geht. Er ist doch noch so klein. Klar, er braucht keine Windeln mehr und kann schon draussen herumlaufen, aber er muss noch angezogen werden, braucht Liebe. Bekam er genug zu essen? Ich gehe da rein. Ich MUSS da rein. Da ist mein Sohn drin, das ist mein Zuhause.

Dass ich spontan im Gefängnis landete, worüber ich meinem Sohn nicht Bescheid geben konnte, war weder geplant, noch hatte ich etwas Illegales dazu beigetragen. Ich habe nichts gemacht, gar nichts. Ich stand einfach nur da. In der Menge. Mit vielen anderen. Wir haben nur zugehört. Gehört, dass das Gesetzt, das uns Frauen etwas Mitsprache gewähren sollte, abgelehnt wurde. Angeblich nach genauer Prüfung. Ich war entsetzt. Die Welt stand still. Konnte es wahr sein, dass wir keine Menschen waren? Es hatte sich so vielversprechend angehört. Die Frau des Politikers wird in der Sache doch so stark von ihm unterstützt! Ausser einem überraschten Blick habe ich jedenfalls nichts verbrochen. Andere begannen jedoch zu rufen, die Hände nach oben zu werfen. Alles ging Schlag auf Schlag und ein Schlag nach dem anderen begann auf die Frauen niederzuprasseln. Dumpfe Geräusche von den Schlägen; ein stechender Schmerz vom Absatz des Schuhs einer anderen in meinem unteren, Rücken, rechts der Wirbelsäule; der Geruch des Bodens, auf dem sich die Pferdeexkremente mit Öl der neuen Automobile vermischte. Die Polizisten verzogen ihre Gesichter zu machthungrigen Fratzen und wurden immer schneller und heftiger. In der Frauenmenge gab es kaum ein Entkommen. Ich wurde niedergerissen, es war schwer aufzustehen, da packte mich auch schon einer der «Ordnungshüter» und zerrte mich am Oberarm in einen Polizeiwagen, der nur 2 Menschenreihen neben uns geparkt war. Auch einige meiner Kolleginnen waren dabei.

Mit ihnen hatte alles ein paar weitere Tage zuvor begonnen: Sie hatten Scheiben mit Steinen eingeschlagen, um sich Gehör zu verschaffen, sie waren freundlich zu mir gewesen, hatten mir zeigen wollen, dass es an der Zeit sei, auch die gleichen Rechte zu bekommen wie die Männer. Ich war jedoch zurückhaltend gewesen. Das Thema war neu für mich gewesen. Ich hatte meinen Chef verteidigt, hatte zu Vorsicht aufgerufen, hatte nicht mit einer Gruppe unbeliebter, rebellischer Weiber assoziiert werden wollen. Eine Gruppe, die als dämonisch hingestellt worden war. Blut würden sie trinken, Neugeborene opfern. Dennoch war ich aufmerksamer geworden, denn das konnte nicht sein; hatte gesehen, wie mein, nach ungesundem Lebensstil stinkender Chef eine 14jährige Tochter meiner Kollegin vergewaltigte, wobei er sich nicht mal geschämt hatte, als er bemerkte, dass ich ihn gesehen hatte, hatte mitbekommen, wie er uns alle über Jahrzehnte ausgenutzt hatte: Schuften mit Chemikalien, die uns früh sterben lassen. Tritte in den Hintern. Zusätzliches Aufbrummen von Arbeiten direkt nach dem 14-stündigen Dienst.
Auch an diesem Tag hatte ich nur zuhören wollen, als ich es plötzlich gewesen war, die im Parlament darüber gesprochen hatte, dass wir ein Drittel mehr wie die Männer arbeiten würden, aber ein Drittel weniger bezahlt bekämen. Einfach nur die Tatsache, dass ich es ausgesprochen hatte, hatte der ganzen Sache eine viel grössere Bedeutung gegeben. Als wäre sie erst durch die Sprache aufgetaucht, die Tatsache, dass etwas nicht stimmte.
Mein Mann hatte dafür ein taubes Ohr gehabt, aber meine Kollegin war mit blauem Auge und offenen Wunden im Gesicht zur Arbeit erschienen, als sie der Rede einer bekannten Frau gefolgt war, die das Wahlrecht für Frauen fordert.

Vielleicht ist er ja jetzt anders. Ich habe Gänsehaut. Vielleicht hat er es verstanden. Die Gasse ist verlassen. Niemand traut sich so spät mehr auf die Strasse. Ich höre das Tropfen durch die undichte Wasserrinne, in der sich Regenwasser gesammelt hatte. Der beissende Wind sorgt für ein pfeifendes Geräusch in meinen Ohren. In diesem Pfeifen meine ich ein Flüstern zu hören. Oder ist da jemand? Es riecht nach modrigem Holz. Der Schimmelgeruch kriecht aus den Kellern nach Oben. Die Briese aus dem Norden sickert durch meine, in der Zelle feucht gewordenen Kleider. Auf der grauen Fassade zeichnen sich durch alte Wasserflecken hässliche Fratzen in das Gestein.

Ich klopfe. Die Türe geht ganz schnell auf und er zerrt mich hinein, blickt dabei schnell und verstohlen einmal nach links, dann nach rechts. Eine Zigarette hat er in der Hand. Die ganze Wohnung ist vernebelt. Er sieht furchterregend aus. Wo ist mein Sohn?
«Wo ist George?» Frage ich auch gleich zuerst.
Er reagiert nicht auf meine Frage, sondern beginnt mit erhobener Hand erst mal zu schimpfen:
«Die ganze Strasse zerreisst sich das Maul über uns. Wo bist du gewesen?»
Wenn er jetzt zuschlägt, landet seine steife Handkante auf meiner linken Schulter und könnte diese wie ein Stück Anfeuerholz zerschmettern. Er ist so aggressiv, dass ich unsicher werde:
«Es tut mir leid.»
Meine Stimme zittert.
«Es tut mir leid?! Du bist eine Schande. Das bist du. Eine Schande!»
Was hat er mit meinem Jungen gemacht?
«Wo ist George?»
«Bist du jetzt auch eine von denen?»
Ich stehe ganz dicht vor ihm und sein Blick ist gesenkt. Der Alkoholgestankt dringt in meine Nase. Ist er zum Monster geworden? Was wird er mit mir machen? Ich ziehe mich zurück:
«Nein.»
«Ich kann dich gar nicht ansehen.»
Ich will an ihm vorbei zum Bett unseres kleinen Kindes. Er stellt sich mir ruckartig in den Weg. Ein Blitzen huscht aus seinen Augen.
Ich sehe den Schürhaken in meinem Augenwinkel. Er ist für ihn genau griffbereit. Ein einfacher kurzer, gezielter, schneller Schlag könnte mir mit Hilfe der Fliehkraft den Schädel spalten, meine Hirnwindungen wären als zähflüssige Masse über dem kalten Holzboden verteilt.
«Ich bin keine von denen. Ich verspreche es. Ich mache das auch nie wieder. Wo ist George? GEORGE? WO BIST DU?»
Da kommt mein kleiner hinter dem Vorhang hervor auf mich zu. Mein Mann stellt sich wieder in den Weg. Nun sieht er mal mich, dann kurz den Jungen an:
«Geh ins Bett zurück. GEH SOFORT INS BETT!»
Verunsichert ist der Bub, aber er kommt zu mir. Schnell gebe ich ihm einen Kuss, bevor er mir wieder entrissen wird. Am Oberarm wird er gepackt, welcher sich nach hinten verdreht, wird nach oben gehoben. Mit schmerzverzerrtem Gesicht dreht sich George noch hilfesuchend nach mir um. Ich bin angewurzelt. Wie eingefroren stehe ich da.

Ein Gespräch gibt es nicht mehr. Ich bin diesmal noch davongekommen. Ohne blauem Auge. Nur im Bett frage ich ihn, was wäre, wenn wir eine Tochter hätten. Natürlich, so meinte er, würde sie das gleiche Leben führen wie ich. Eine Horrorvorstellung: In der Fabrik auf die Welt kommen, dort als spätestens 7jährige voll im Einsatz, gleich nach der Geschlechtsreife das Opfer von Sexualverbrechen, keine Perspektive.
Als er wie ein Teufel schnarcht und ein Geräusch im kalten, grauen Raum verbreitet, das an rasselnde Riesenratten erinnert und das Tippeln der richtigen kleinen Kakerlaken unter dem Bett übertönt, nehme ich das Buch* meiner Schwiegermutter hervor. Teuer muss es gewesen sein mit seinen Goldrändern und vielen Illustrationen und Photographien. Ich lese in dem 2. Kapitel mit dem Titel «Das Weib als Hausfrau». Hier heisst es, dass meine Rolle zu Hause ist, dass ich dem Manne zu dienen hätte. Es steht aber nichts davon, dass ich zudem noch mehr schuften müsste, um dann mein ganzes Geld am Ende der Woche ihm zu geben. Ich liebe meinen Sohn, aber ich bin nicht mehr die Gleiche. Die Misshandlungen im Gefängnis, die Gleichgültigkeit meines Mannes, der sich laut diesem Buch um mich zu kümmern hätte.
Bevor ich einschlafe nehme ich noch einen Schatten vorm Fenster war. Ein Umriss eines Mannes: Hut, Umhang. Ich träume von der Geheimpolizei.

… ein Ende? Gibt es denn schon ein Ende? Wo ist das Ende festzusetzen? Wer legt es fest, das Ende? Welches Ende ist erstrebenswert? Wann wird es ein Ende geben?

Inspiriert vom Film: «Suffragette. Taten statt Worte.» mir Carey Mulligan, Helena Bonham Carter, Brendan Gleeson, Anne-Marie Duff und Meryl Streep. Concorde. 2015.
*Holzmann R. Prof. Dr., Weiss Jul. Prov.-Doz. Dr., Mann und Weib. Ihre Beziehungen zueinander und zum Kulturleben der Gegenwart. Union Deutsche Verlagsgesellschaft. Stuttgart, Berlin, Leipzig, 1910 (?).
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