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Horroreinkauf

Hinter dem Regal mit der Schokolade stand es, das Mädchen, als es erstarrte und sich genau auf den Klang konzentrierte:

„Kling, klock, kling, klock.“

Die Geräusche hatten einen geringen Abstand von wenigen Sekunden. Sie waren so weit auseinander, wie es Tritte sind. Schritte, die sich näherten. Das, so war dem Mädchen klar, konnte sie daran erkennen, dass die Töne immer lauter wurden. Sie nahm unbewusst die Richtung aus. Es schien vom Eingangsbereich des Lebensmittelgeschäftes zu kommen. Wie war das möglich? Es waren doch jede Menge Leute hier! Sah das denn niemand! Aber wo sind sie hin, die vielen Einkäuferinnen? Keine scheint Schokolade zu erwerben. Ihre Mutter hatte ihr aufgetragen, Tomaten zu kaufen. Sie hatte sie in einem Gemüsesäckchen in der linken Hand. Diese zitterte.

„Kling, klock, ...“

Immer näher kam sie, die Bedrohung. Das Mädchen hatte böswillige Visage vor ihrem geistigen Auge. Ein Clown kam darin vor, der eine mit Tomatensaft und Blut verschmierte Fratze verzerrte. Die Kürbisse vom Halloweentag schienen lebendig zu sein. Ihr verstorbener Urgrossvater fiel ihr ebenfalls in diesem Moment ein. Wie er kurz vor seinem Tod abscheulich ausgesehen hatte, als danach, nachdem die Bestatterin ihm sein bleiches, faltiges Gesicht geschminkt hatte, ihm die Sehwerkzeuge geschlossen hatte, die vorher diese starren, hellblauen Augen zeigten, welche sie bedrohlich angestarrt hatten.

 

Wie sie ihr Verhalten anpassen sollte, hatte sie sich in dem Moment gefragt, als sie die Bilder von ihrem Gehirn mit einem Kopfschütteln verbannte. Sie hörte auf zu atmen. So endete das Kitzeln der losen Haare, die durch den, mit Plastikpartikeln durchzogenen Haarbalsam unbändig ihr Gesicht umrahmten, obwohl sie mit einem braunen Band, das sich farblich kaum von ihrem Kopf abhob, zusammengebunden waren. Ohne Luft zu holen, könnte sie seine Schritte besser lokalisieren, so kombinierte sie ihre rasenden Gedanken.

Was hatte sie bloss zwischen diesen Süssigkeitenregalen zu suchen? Sie hatte doch nur Tomaten holen sollen. Diese waren fast immer beim Ein- und Ausgang deponiert, weshalb der Gang zur Schokoware unnötig gewesen war. Die Werbung war es gewesen. Oder, um einer Art von vollständiger Wahrheit näher zu kommen, vielmehr die Tatsache, dass sie ständig vom Marketing von allen Seiten zugehämmert worden war. Wurde. Wird. Immerzu. Pausenlos. Welchen Grund könnte es sonst geben, dass sie ohne Hunger zu Regalen gegangen wäre, die Lebensmittel enthielten, die dieser Bezeichnung nicht wert waren. Wenn das Verbot von Nahrungsmitteln mit dem verbunden wäre, welche Abhängigkeit sie verursachten, so wäre das reine, aus Rüben, oder Halmen extrahierte Kohlehydrat auf der, zu verbannenden Liste für Essbares. Zucker und die vielfältigen Produkte, die damit erzeugt wurden, welche dem einzigen Zweck dienten die Taschen der Grosskonzerne, wie Unilever, oder Nestlé auszustopfen, würde es schon bald nicht mehr in der Fülle geben. Das hatte sie gestern am Abend aufgeschnappt, als sich ihre Eltern mutlos über die neue Situation unterhielten. Weil es aber geheissen hatte, sie müssten ab jetzt sparsam sein, hatte sie ein beschissenes Gewissen dabei, überhaupt in Erwägung zu ziehen, sich doch noch irgendetwas von diesen Regalen zu holen.

 

Nun wurde sie aber abgelenkt. Diese Geräusche zogen den Moment hin. Vor allem deshalb, weil sie normalerweise von nicht Hörbaren begleitet wurden. Nur dieses „Kling-klock“ war zu hören. Sie sah im hinteren Teil des Geschäftes die Fleisch-Wursttheke. Keine Menschenseele da. Keine Verkäuferin, keine Kundin. Das sah letzthin anders aus. Das vertraute Stimmengewirr, der Radio des Lebensmittelfrenchicers, das einem den letzten Stups gab, um doch Dinge zu kaufen, die niemand brauchte, indem es einem mit ihren „ach-so-unwiederstehlichen“ Rabatten bombardierte.

 

Sie drehte sich hastig um, als ihr klar wurde, dass da vieles nicht stimmte. Ob es mit dieser neuen Situation zu tun hatte, die ihrer Mutter mit ihrem Vater so Angst einflösste? Was wenn da ein Monster auf sie zukam? Obwohl es diese offenbar nicht gab, wie ihre grosse Schwester ihr Mal klar zu machen gedachte. Weniger trostreich fand sie ihren nächsten Gedanken: Noch niemals hatte ihre andere Tochter ihrer Mutter sie beruhigen wollen, nie sie mit Liebe überschüttet. Ihre Eifersucht hatte sie immer nur dazu getrieben, alles erfreulich zu finden, was ihrer kleinen Konkurrentin schadete. Daher hatte sie nachgeschoben, dass es wesentlich schlimmere Lebewesen auf dieser Welt geben würde als Monster. Sie seien meist in menschlicher Gestalt, würden harmlos aussehen, ja sogar besonders nett und vertrauenswürdig.

 

Er, es, was auch immer, kam näher. Nicht schnell. Eher gemächlich. Jedoch pausenlos. Zielstrebig. Was war zu tun? Wohin? Richtung Ausgang würde bedeuten, direkt auf das Geräusch zu. In den hinteren Bereich des Geschäftes, das war die einzige Fluchtmöglichkeit. Hier stand links von der Fleischkühtheke ein Regal. Ein ansehnliches Holzregal mit Salami, Debreziner, Speck und sonstigen feinen Würsten und gepökeltem Fleisch aus unterschiedlichen Ländern. Bis dahin würde sie es schaffen, bevor die Schritte mit dazugehörigem Lebewesen hinter dem Regal hervorkommen würden. Ihr Herz klopfte flotter, als sie sich vorstellte, wie sie ebendahin geraten würde. Ihre billigen Sneakers würden sie auf leisen Sohlen dorthin tragen. Ihr leichtes Gewicht, ihre sportliche Teenagerfigur dafür sorgen, dass sie schnell genug wäre. Ihre simple Jugendkleidung, der dunkle Polyester-Hoddy mit der braunen Jogginghose, dem schwarzen T-Shirt darunter, würden als Tarnfarben dienen. Unauffällig, wie ihre hellblauen Augen und die matte weisse Haut. Sie malte sich gleich aus, wie er sie erwischte, packte und unter den Arm klemmte. Einen grossen, muskulösen, dunkelhaarigen Mann, glatt rasiert mit scharfem, stechenden Blick stellte sie sich vor. Sogleich wischte sie den Gedanken wieder weg. Sie wollte sich auf den Fluchtweg konzentrieren, wie sie es beim Räuber und Gendarme Spiel mit ihren Freundinnen tat. Da fiel ihr ein, wie geschickt sie ja sonst in dieser sportlichen Tätigkeit war. An diesem Tag würde sie nicht verlieren und legte ihren Fokus wieder auf das Holzgestell.

 

Da: Er blieb stehen. Gedachte er sie zu verwirren? Dadurch war es ihr möglich, die gewonnene Zeit besser einsetzen. Flink, aber leise wie eine Indianerin, jedenfalls wie sie sich eine vorstellte, machte sie einen grossen Schritt nach dem anderen. 5 reichten, um vor das anvisierte Möbelstück zu gelangen. Sie drehte sich nochmal um, um sich zu vergewissern, dass ihr der Verfolger nicht auf den Fersen war. Offenbar hatte er seinen Marsch fortgesetzt. Das Kling-Klock-Geräusch setzte wieder ein. Noch war er aber nicht aus den Schokoriegeln und Schnitten aufgetaucht. Das verschaffte ihr genug Zeit, um sich hinter die getöteten, konservierten Tiere zu hocken. Da kauerte sie, zog die Kapuze über den Kopf, den Kragen nach oben, um sich unsichtbarer zu fühlen.

 

Es fiel ihr ein, dass sie ja gar nichts dafür konnte und an der Schokolade vorbei hatte müssen, weil es nur so zur Kasse gegangen wäre. Die Abkürzung zum Bezahlen von den Obst- und Gemüsewaren war abgeschnitten, um Konsumentinnen zum Kauf zusätzliche Ware zu verführen.

 

Es dauerte weitere ewig erscheinende 20 Sekunden lang, bis doch Bewegungen sichtbar waren. Erst diffus, durch die verpackte Tiermuskulatur hindurch, dann als sie vorsichtig und langsam eine günstigere Position fand, besser. Tatsächlich: ein Mann. Jedoch nicht breit und stark, sondern eher schmächtig und zusammengefallen, alt und gebrechlich. Er setzte seinen Marsch fort. Aber er musste doch sehen, dass da niemand war. Für die Produkte begeisterte er sich ja nicht. Er bleibt nichts übrig, er verfolgt sie. Mittlerweile murmelte er etwas. Sie vernahm nur Wortfetzen:

 

„ ... doch hier gewesen... .“

 

Wer? Er hatte es auf sie abgesehen? Aber warum? Hier im Geschäft? Mal nachdenken. Sie war mit dem Fahrrad gekommen. Sonst nichts; nur 2 Minuten von zu Hause, um diese roten, saftigen Bälle zu holen. Bloss ein Mädchen von unbedeutenden Eltern in einer unbekannten Stadt. Einfach so. Was will er? Ihre Augen weiteten sich, als er nicht innehält. Er hatte seinen Blick nach vorne, auf ihrem Kurs. Aber er schien ins Leere zu glotzen. Ihre Beine waren in der Hocke eingeschlafen und daher suchte sie sich eine andere Position. Nur etwas, um nicht gesehen zu werden. Da blieb er stehen, starrte direkt in ihre Richtung.

 

„Oh nein“, fuhr es durch ihre Wahrnehmung. Es ist vorbei. Er würde sie am Arm schnappen, diesen abschnüren und sie aus dem Geschäft in sein Lieferfahrzeug sperren. Durch den unteren Teil  des Regales erkannte sie nun, wie es zu diesem unregelmässigen Geräusch kam: Er hatte nur ein Bein. Das Zweite war durch einen Holzblock ersetzt worden. Ein einbeiniger, alter Herr, der von der Hüfte weg wie ein Pirat aussah.

 

Er humpelte weiter. Er schien zielstrebiger als vorher. Er tastete mit seinen fahl-blauen Augen, die vom grauen Star gekennzeichnet waren, das Regal von oben bis unten ab. Seine blutleere Haut passte zu seinem weissen, kurz geschnittenen, schütteren Haar. Seine simple, schwarze Kleidung machte es dem Mädchen schwer, den Mann und einzuordnen. Das war’s.

 

Bevor er das Regal erreichte, hob er langsam seine Arme, eine einladende Geste, die ihr sagte, sie solle hervorkommen. Sie fragte sich, ob er bluffte. Er hatte sie doch gar nicht sehen können. Unmöglich. Schliesslich war sie leise gewesen und hatte sich kaum bewegt. Sie erstarrte. Er schloss weiter auf, kam aber nicht ausreichend nahe, um sie zu berühren, jedoch war der Abstand gering genug, um ihr durch die luftdichten Verpackungen hindurch in die Augen zu sehen, als er meinte:

 

„Komm, Mädchen. Geh mit mir zur U-Bahn. Die Luftangriffe haben begonnen.“

 

 

Ihr war die Dimension dieser Aussage nicht klar, aber in seiner Stimme lag Resignation und Freundlichkeit, also stand sie langsam auf, während sie so ein Gefühl bekam, das ihr suggerierte, dass sie in naher Zukunft öfter Angst haben würde.

 

 

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