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Muttertagsthriller

Beim Abendessen werde ich es mal mit der Sachebene versuchen. Wenn es bescheiden und privat nicht gelingt, dann müssen eben psychologische und pädagogische Tricks ran. Ich werde sie bitten, etwas mehr Empathie und Rücksicht walten zu lassen. Damit sie erst gar nicht auf die Idee kommen, mich wieder zu diffamierend, werde ich sie anhauen die Regeln einzuhalten: Keine Beleidigungen, sich selbst nicht angegriffen fühlen und nicht eine Ausrede, oder andere beschuldigen, wenn sie antworten. Ich werde ihnen erklären, dass es nicht darum geht, dass sie schlechte Menschen sind. Nur ihr Handeln ist teilweise anzupassen.

All das mühsam angesammelte, pädagogisch-psychologische Fachwissen, gepaart mit Kommunikationsraffinessen anwenden. Eine Menge Geld hat sie selbst für Coachings ausgegeben, Zeit in Gesprächstherapien investiert. Das soll sich auszahlen. Sie werden nicht nur einsichtig, sondern sogar dankbar sein. Wie Schuppen wird ihnen von den Augen fallen, dass sie so in unserer Gesellschaft etliche Chancen haben. Sie werden verstehen, dass es sich im Team leichter weiterkommen lässt. Es wird ihnen klar werden, dass sie mehr in ihrem Leben werden meistern, wenn sie nicht nur sich selbst, sondern ihr Umfeld im Auge haben. Ihre Umgebung wird ihnen dankbar sein und sie werden von eben dieser gefördert, befördert. Fern in der Zukunft werden sie entzückt zurückdenken. In ein paar Jahren werden sie sich an die grosszügige Geste der kostenlosen Hilfe erinnern. Gratis. Oder umsonst? Unmengen an Asche geben die ambitionierten Menschen der Start-up-Szene aus, um es zu etwas zu bringen.

Ihre Tochter hatte Oma leider vor langer Zeit verloren, sie hat sie vor ihrem inneren Auge. Seit die Mutter ihrer Enkelkinder vor nunmehr 20 Jahren starb, tauchten deren Nachkommen am Anfang, als sie selbst Kinder waren, zum Muttertag auf. Sie gedachten ihres eigenen Verlustes, luden ihre Trauer ab und verschwanden wieder mit ihrem Vater. Kaum dass sie volljährig waren, hatten sie Besseres zu schaffen. Natürlich, das Leben geht weiter. Dass dies bei Oma nicht ewig so weitergehen würde, wurde ihnen offenbar klar, als es darum ging mal wieder einen Kredit aufzunehmen. Wie viele Zinsen sie sich durch ein Erbe sparen würden, hatten sie sich ausgerechnet. Gescheiterte Geschäftsmodelle, Jobs, die zu anstrengend wurden.
Nach einem dieser Gastaufenthalte ist Grossmutter zum fünften Mal auf Kur gegangen. Sie brauchte dringend Erholung. Dazu gönnte sie sich eine Psychotherapie und allerlei Ruhe. Dabei hatte sie über den Besuch nachgedacht: Durchgehend war sie angespannt. Die Schuhe der jungen Leute lagen im Weg herum. Immer. Das Geschirr wurde nicht gewaschen und wenn, war es für sie die gleiche Menge Arbeit, weil die Fettspuren und verbleibenden Essensreste zu Küchenschaben- sowie Fliegen und Kakerlakenvermehrung beitragen würden. In der Badewanne war das Wasser seit deren Ankunft kaum abgeronnen, weshalb sich die langen Haare der Besucherinnen darin verteilt hatten. Darüber hinaus waren dann die Exkremente an den Haarknäuel hängen geblieben. Man war ja ökologisch und hatte kein Toilettenpapier benutzt und hatte nur Wasser an seinen werten Arsch gelassen. Dass die Toilette voll Scheisse gewesen war, war Dauerzustand. Bei jeder Berührung mit dem Toilettenbesen schwebten sie in grosser Infektionsgefahr. Dieses schleimige Getue, wenn es ums Essen gegangen war:
“Ach, Omi! Du bist schliesslich die Beste! Wir sind unfähig die Zwiebel so toll zu schneiden wie du.”
“Ja, alles schmeckt so wunderbar nach Kindheit. Du weisst schon, so wie damals!”
Dass es dabei um emotionale Erpressung gegangen war, war ihr zu Anfang im Anschluss an den letzten Kuraufenthalt klar geworden. Nach diesem war erst mal lange Ruhe.

 Und da sind sie wieder. Nach vielen Jahren. Zum Muttertag.
“So ein Jährchen ist sooo flink um. Und du sagst, dass das im Alter subjektiv noch schneller gehen wird?”
“Freut euch nicht zu früh, für euch vergeht es gleich langsam.”
“Aber nein, wir gönnen dir noch viele angenehme Jahre.”
Nach 8,5 Jahrzehnten ist die Antenne der Dame geschärft, was Untertöne und Bedeutungen zwischen den Zeilen betrifft.

4 Jahre später haben sie sich wieder angekündigt. Sicher finden sie, dass 90 ein ideales Alter zum Sterben wäre. Die Mutter der ihren ist vorbereitet.
“Ja, die Letzten sind mir die wichtigsten!”
“Wieso das? Da passiert ja nichts mehr!”
“Was ereignet sich denn bei euch? Als ihr Säuglinge wart, wurde euch die Kacke weggeräumt und jetzt ist es noch immer so!”
Autsch. Das ist nicht der Plan der alten Dame. Professionell wollte sie sein, ein gutes Vorbild. Alles richtig machen, ihre Erfahrungen umsetzen.
“Na ja, es gibt Wichtigeres im Leben!” Flötet die junge Lady der Runde, reckt dabei das Kinn nach oben, spitzt die Lippen und zieht die Augenbrauen zusammen, sodass sich ihre Stirn in Falten legt.
“Ja was denn?: Umso mehr Müll durch ansteigenden Materialismus produzieren, um die Natur umzubringen?”
Ihr Unterbewusstsein ist stärker als ihr Verstand. Sie möchte ihr Vorhaben aber umsetzen.
“Ach Omi, wir erfinden die beste Technologie! Dafür gilt es kreativ und entspannt zu sein. Dann wird Kohlendioxid ebenso neutralisiert, wie jede Strahlung der Atomkraftwerke.” Schaltet sich der Bruder ein.
“Na klar, und das Ganze auf Net-Zero-Basis.”
“Ach, ihr Alten und euer Zynismus. Woher haben wir denn den Dreck? EURE Generation ist es doch, die uns das eingebrockt hat!”
“Und unsere hat Solarstrom und Erdwärme erfunden. Allerdings nicht, um Energie dafür zu haben, damit IHR das gleiche Wasser derselben Quelle, das aus der Leitung kommt, in dekorativen Plastikflaschen kauft, um somit den Energiegewinn wieder zunichtezumachen.”
“Alte Leute sind eben verbittert. Nur unser Optimismus hilft.”
Langsam dämmert der Gastgeberin, dass sie gegen sich selbst machtlos ist. Sie überdenkt ihre Strategie. Klassische, bewährte Lehrmethoden schiessen ihr durch den Kopf. Lernen durch Erfahrung.

Seit sie den Plan adaptiert hat, ist sie entspannter. Sie handelt zielorientiert. Weil die Enkel erwägen, ihre alte Gastgeberin sei mittlerweile eingelullt genug und würde ohnehin nichts peilen, wird ihre Zunge lockerer. Sie lassen sich verwöhnen und nehmen jeglichen Service wie Monarchen undankbar an. Die, auf die 100 zugehende, ungewollte Servierkraft freut sich über so viel Unaufmerksamkeit, denn genau diese soll dem Narzisstenpack zum Verhängnis werden.
Während sie im Hintergrund kramt, räumt und macht, schnappt sie Gesprächsfetzen, von der jüngeren Generation auf der Couch auf:
„… ja, sicher …
„… und sonst müssen wir eben nachhelfen …“
„… Möglichkeiten, Chancen …“
„… zu Ende … kein Schafen mehr …“

Ethische Überlegungen aus alten Diskussionen poppen in ihrem Gedächtnis auf: Erfahrungsschatz, Wissen im Vergleich der Werte mit einem eben erst auf die Welt gekommenes Leben. Ein Geschäft, in das enorme Geldsummen geflossen ist, will in der Kostbarkeit erhalten werden, eines, das jung ist, Potential hat, aber finanzschwach ist, zum Verglühen gebracht werden.

Es ist so weit: Die erste steht auf und möchte rauchen: Auf der Terrasse sollte dies geschehen, so viel Würde wollte sie der Alten lassen. Das Licht ist fahl draussen, die Dämmerung hat erkennbare Details verschluckt. Die Enkelin betätigt erfolglos den Lichtschalter, als sie murmelt:
„Ach was soll‘s auch. Ich kenne ja den Weg.“
Ein paar Stufen hätte sie hinunter zu schreiten, was ihr erspart bleibt, weil sie über einen gefüllten, schweren Futternapf aus Ton stolpert. Ihre Reflexe lassen sie zur Brüstung greifen. Diese gibt nach und so poltert ihr Kopf wie ein Billardball von den scharfen Kanten der abblätternden Fassade zu den Betonpfeilern des Geländers bis zum endgültigen Stillstand auf die Terra-Cotta Platten auf der Terrasse.

Der Bruder, welcher sich im Anschluss an das krampfhafte Gespräch mit der Hausbesitzerin erst nach einer halben Stunde über den Verbleib der Schwester wundert, geht nachsehen. Vom Ausgang sieht er sogleich das Desaster: Die dunkelrote Körperflüssigkeit des Schädels hat sich um diesen wie ein grosser Heiligenschein gelegt. Ein Arm liegt unter dem Körper, der seitlich auf dem Boden aufgekommen ist, der andere weggesteckt in Richtung Mekka zeigend.
Seine Augen weiten sich, er schlägt die Hand vor den Mund, als schon ein Blumentopf aus Ton, frisch gefüllt mit Christrosen und gegossen, als wären sie eine Sumpfpflanze, auf seinem entsetzten Haupt landet. Auch seine Reflexe handeln, wie die seiner Schwester und haben einen ebenso fatalen Effekt. Erst scheint die Tote als eine Art Auffangmatratze zu dienen, aber gleich wird klar, dass sein Dickschädel nicht hart genug ist für den Aufprall auf einen der Steinplattenstapel.

Folgend auf 45 Minuten Stille tritt Grossmütterchen aus dem Haus, betrachtet die bizarre Menschenformation am unteren Treppenrand und kontempliert darüber nach, wie es zu diesen Unfällen gekommen ist:
Der Hilferuf, um eine Glühbirne auszutauschen, hatte Gelächter ausgelöst.
Als sie wegen schmerzhafter Gichtschübe ihre Erbinnen bat, ihr doch beim Umpflanzen der Blumen zu helfen, bekam sie einen Vortrag über deren Prioritäten, zu denen keine Blümchen gehörten. Bei der Bitte um die Organisation zur Reparatur der Handläufe wurde sie mehrfach vertröstet. Die Fertigstellung der Verlegung der Tonplatten, welche ihr Ehemann begonnen hatte, nach dessen Tod, wäre ebenfalls von ihr als grosse Geste des Nachwuchses ihrer Tochter bewertet worden. Da erhielt sie nicht mal mehr eine Antwort.
Ihr erfülltes, reiches, wenn auch altes Leben scheint ihr unversehens äusserst mächtig.

 

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