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Snowboard im Nebel

Nebel
Nebel

Ich frage mich wieder, wie ich in diese Lebenslage gekommen bin! Ich werde sterben. Dabei bin ich gerade 33 Jahre alt! Es ist eine Verschwendung: Ich bin gesund, mein Leben verläuft wunderbar, ich liebe es und ich komme vorwärts ... . Na ja: Kam voran. Das ist vorbei. Selber schuld bin ich an der Situation. Ich bin dafür verantwortlich und niemand sonst. Schicksal wird es sein. Gott hat es so gewollt. Pha. ...

Der Schöpfer. Der sollte einen nicht erst in so einen Salat bringen. Eigenverschulden. Wo ist da seine Allmacht? Ach ja: In den Umständen bezieht sich die Kirche dann wieder auf die Eigenverantwortung. Ist nichts für mich, der Glaube. Auch nicht, wenn ich dem Tod ins Auge blicke. Viele sind ja in so einer Lage bekehrt worden. Ich nicht. Egal. Eh zu spät. Erfrieren soll ja nicht schmerzen. Bisher lenkt die Kälte eher ab, erschwert die Bewegungen. Ich schlottere. Es scheint dieses Zittern bald aufzuhören. Die Zehen sind steif, meine Finger ebenfalls. Ich fühle mich bewegungsunfähig. Es gibt kein Vor- und kein Zurück. Nix geht mehr, rien ne vas plus.

Ich spüre nicht nur die Kälte, wie sie mir durch alle Glieder dringt, auch die Eiskristalle scheinen sich auf der Haut im Gesicht festzusetzen. Wie Mininadeln in meinem Antlitz. Ansonsten ist die Sicht klarer geworden. Zwar ist es noch nebelig, aber der Dunst ist nicht mehr so undurchsichtig wie vorher, sodass ich nicht nur Schnee sehe, sondern Konturen von blätterlosem Gebüsch vor mir und ein Stück Felsen rechts. Stille. Absolut schallwellenfrei.
 

Der Schall der Schiliftanlagen wird von den Bergen, die sich davor geschoben haben verschluckt. Angenehm könnte es sein, wenn ich wüsste, wo ich bin, wenn nicht bald die Nacht des Dezember hereinbrechen würde. Die Stille hätte etwas Entspannendes, wäre sie in dem Moment nicht dermassen tragisch. Ich kann mich dadurch nicht orientieren. Wo sind die Liftanlagen? Wo ist die Zivilisation? Durch meine Nase dringt klare, Bergluft in Eiskristallform, die erahnen lässt, dass es frischen Schnee gibt.

Kristallsternchen, die mich hierhergelockt haben. Ich liebe ihn, diesen Powder. In diesem Augenblick ist er ein Fluch. Der Spur bin ich gefolgt und es war ja genügend Sicht. Der stressigen Menschenmasse wollte ich entfliehen, die Sonne geniessen, diese eine Abfahrt machen und sie mir ins Gedächtnis brennen. Solche Gelegenheiten gibt es alle paar Jahre einmal. Ich folgte der Fahrspur. Sie musste ja irgendwohin führen. Niemals bin ich bisher in einem fremden Schigebiet irgendeiner Fahrrinne gefolgt. Heute fand ich es schrecklich verlockend. Unwiderstehlich. Da das ganze Abenteuer mit mehreren Spuren begann, war ich fix davon überzeugt, dass diese weiterführen. Sie mussten weiter gehen. Das taten sie nicht! Als ich das bemerkte, war es zu spät. Erst war ich damit beschäftigt zu überlegen, wie das denn sein könnte. Dabei zog unmerklich diese Dampfwolke auf. «Nebel des Grauens» ging mir durch den Kopf. Und:

«Reiss dich zusammen, du bist hier nicht in einem Horrorfilm.»

Oder doch?

Wo um alles in der Welt war diese Snowboarderin geblieben? Die Spur war ausgeprägt und klar und der Wind kann sie hier nicht verweht haben. Hm, wirklich nicht? Ich hörte dann damit auf, mir den Kopf zu zerbrechen, wo die Person hingekommen war. Tief holte ich Luft und sagte zu mir, dass ich lösungsorientiert bleiben sollte. Ich drehte mich um, sah, dass ein Aufstieg nach oben aussichtslos war. Stundenlang würde ich durch den Tiefschnee robben müssen, dabei immer wieder abrutschen, um dann festzustellen, dass ich es am gleichen Tag nicht mehr schaffen könnte. Übernachten hiesse erfrieren. An einen Handyempfang war hier nicht zu denken. Zu fern oben, zu weit weg. Rechts, in Richtung unten war eine Klippe zu erkennen. Und was für eine! Mindestens 10 Meter wären zu überwinden, darunter wieder Felsen mit einer dünnen Schneeschicht darauf, die einem beim Aufprall den Rücken in Stücke reissen. Geradeaus das gleiche Szenario. Ich hatte mich umgesehen, gegrübelt, abgewogen, bis mich der Mut verliess. Der Nebel war schleichend, jedoch zügig immer dichter geworden während ich nach einem Ausweg suchte; nur mehr die Hand vor den Augen war sichtbar.

Das ist das Ende. Der Nebel scheint sich langsam wieder zu verziehen. Die Hoffnung kommt allmählich zurück. Noch lebe ich.

«Beweg deine Zehen in den Schuhen!» Befehle ich mir.

Vor mir ist dieses Gebüsch. Könnte ich mich daran abseilen? Ich will dort hin kriechen, um nachzusehen, das Snowboard ist ungelegen. Wenn ich es ausziehe, weiss ich nicht, wohin damit. Es würde davon rutschen, ab in die Tiefe auf Nimmerwiedersehen und die letzte Hoffnung eines Transportmittels wäre dahin. Gesetzt den Fall, dass ich es am Bein mit der Sicherheitsschnur hängen lasse, ist es wieder hinderlich. Es bleibt ausschliesslich das Robben. Die Überwindung einer Distanz von ca. 2 Schritten dauert wenige Augenblicke. Es ist so anstrengend, dass mich der Schweiss von innen durchnässt. Dies hilft mir dann später wenigstens dabei, früher der Eiskönigin im Jenseits zu begegnen. Folgend ca. 30 Minuten, die sich wie eine Stunde anfühlen, erreiche ich den Strauch und die Hoffnung schwindet wieder. Ich sehe, dass es jäh in die Tiefe ragt. Zu steil und zu endlos. Der Busch ist zu klein. Er würde mich nicht mal aufhalten, wenn ich auf ihn zu rutschte, und würde oberhalb hinweggleiten, ohne ihn wahrzunehmen. Was nun. Weiter über die Vorzüge von Religion nachdenken. Doof ist, solange doch alles unbewiesen bleibt, auch nach dem Sterben. Dann würde es mir nicht mehr auffallen. Ich lasse das Herzrasen zur Beruhigung kommen, meinen Blutdruck sinken. Erneute 3 Minuten: es lichtet sich der Nebel vielmehr. Da erkenne ich, dass zur Rechten und linker Hand beschwörende, graue Felswände in die Höhe ragen. In diese Richtung direkt vor mir, ein Stück neben dem Grossen, ist ein Fels. Ob der ganze Felsvorsprung, der sich von der einen zur anderen Seite Wand zu spannen scheint überall so steil und weit in die Tiefe ragt? Ich beginne wieder zu robben. Erst hinauf, um Reserveabstand zu haben, falls ich nach unten abrutsche. Kaum kann ich mich in dem lockeren Tiefschnee halten. Er erinnert an Treibsand. Diese feinkörnigen Kristalle, die ich sonst so gerne sehe und die in der Sonne wie tausende Sterne glitzern.
 
Gliedmassen nach vor, auf dem Bauch im kalkfarbenen Gold liegen, Beine mit Snowboard daran wiederholt nachziehen. Arme erneut vor, … . Nein. Erst den gesammelten Schnee unter meinem Körper vor dem Board aufs Neue wegschaufeln. Dann wie gehabt von vorne. Ich erreiche diesen anderen Stein, der aus dem weissen Gold ragt. Dahinter ist eine Mulde, danach eine weitere, in die Landschaft integrierter, grosser Granitstein. Dazwischen scheint es wenige 5 Meter in die Tiefe zu gehen. Darunter ist Pulverschnee. Der könnte mir eine sichere Landung ermöglichen. So weit bin ich mit einem Wintersportgerät nie gesprungen. Na ja, wenn es denn mein Leben rettet, … . In der Tat weiss ich nicht, wie es weitergehen wird. Kommt ein zweiter Vorsprung? Eine Schlucht? Ein unüberwindlicher Bach? All das bleibt mir hinter der Nase dieses Stückes versteinerter Berg verborgen. Es gibt eine Möglichkeit: Ausprobieren. Es heisst erst Überwindung. Ich muss da runter. 5 Meter. Das schaffe ich. Wenn ich mir einen Knochen breche, erfriere ich doch noch. Chancen erhöhen, dass das nicht passiert!: Konzentration! Locker bleiben. Die Höhe verringern, indem ich gleich in die Knie gehe. Nach unten gleiten.

Ich bin in der Luft. Was würde passieren?

Diese Freerider! Mangelndes VS-Gerät, fehlende Schaufel, ohne Sicherheitsausrüstung irgendeiner Art sind sie unterwegs. Und dann muss sie wieder ausrücken, die Rettung. Was für Verschwendung von Versicherungsgeldern! Im Schnee sollte man sie lassen. Ein Geschenk für die Nachwelt wären sie und zugleich ein Mahnmal. Die nächsten Generationen würden sehen, wie die Leute im 21. Säkulum mit ihrem Wintersport die Natur verschandelten. Sie stellten in 2000 Jahren fest, falls sie bis dahin überleben, feststellen, wie arrogant sie waren. Anzunehmen, sie sind fähig, überall hinzukommen, egal womit. Dieser Kunststoff, der Meerestiere ersticken gelassen haben wird und Landsäuger inklusive Menschen unfruchtbar gemacht haben wird, so könnten sie herausfinden, war im 21. Jahrhundert auf jedem Fleckchen Erde benutzt worden. Obendrein weit oben auf den Bergen. In den 90ern waren Drogenhunde losgeschickt worden, um Snowboarderinnen zu suchen. Zweifelhafte Methode. Weil es sinnlos war, liess man wieder davon ab.

Wow. Dieser Moment, in dem ich lande, nachdem ich in der Luft war. Ein Etappensieg. Zwar gibt es diese Unsicherheiten, ich bin erst mal ein paar Ellen weiter. Ich rutsche 2 Meter, um von der Engstelle wegzukommen. Ich sehe ums Eck und erkenne, dass sich der Nebel gelichtet hat und es ein grosses Stück vorangeht. Es ist nicht zu steil, nicht zu flach. Das Fahrgefühl ist mässig, weil die dicken, harten Brocken einer früheren Lawine unter dem Tiefschnee dazu führen, dass die Kanten des Brettes kratzen und wieder von diesen abrutschen, mich unkontrolliert hin- und herwerfen lassen, aber es geht weiter. Ich bin schrecklich erleichtert. Vor mir scheint rechts die Felswand ein Ende zu nehmen. Hinter ihr könnte es zur Zivilisation gehen. Ich ziehe meine Bögen, nicht mehr darauf achtend, ob sie ein ansehentliches Muster ergeben, da kommt ein Bach. Er ist schmal und zugeschneit. Ich sinke beim Überschreiten zwar ein, ich schaffe es. Weiter. Noch bin ich nicht da. Aber ich bewege mich. Der Nebel ist weg. Ein paar Minuten später sehe ich die Piste auf der rechten Seite nach der Felswand. Juhu. Geschafft.

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Spuren im Schnee
Spuren im Schnee

Sonnenaufgang in den Bergen
Sonnenaufgang in den Bergen

Snowboarden
Snowboarden

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Kommentare: 8
  • #1

    Kaya (Sonntag, 06 Juni 2021 09:37)

    Deine Geschichte erzeugt in mir Emotionen, Bilder, deine Fotos sind stark. Errinnerungen an eigene Erlebnisse kommen in mir hoch. Dein Schreibstil gefällt mir.
    Wir trafen uns letzten Samstag beim Schreibkurs bei Vlora im Karl den Grossen. Die Impulse dieser Stunde hinterlassen befruchtende Spuren für meine Schreiberei. Du warst genau das richtige Gegenüber für mich.
    Herzlich Kaya
    kaya@kayalusti.ch

  • #2

    JULIA, die Schreibkünstlerin (Sonntag, 06 Juni 2021 09:50)

    Liebe Kaya
    Das ist ja eine sehr angeneheme Überraschung und ein äusserst motivierender Kommentar! Es freut mich, dir etwas mitgegeben zu haben! Auch DEIN Text hat mich inspieriert! :-)
    Liebe Grüsse
    JULIA

  • #3

    Giorgio (Sonntag, 06 Juni 2021 11:10)

    DU Schreibkünstlerin bist brillant, berührend, virtuos, abgrundtief und Höhen erklimmend, spannend, entfesselnd, historisch, elegant, dramatisch, witzig, scharfsinnig. Du hast grosses Potential.

  • #4

    JULIA, die Schreibkünstlerin (Sonntag, 06 Juni 2021 18:09)

    Lieber Giorgio
    Vielen herzlichen Dank! :-) Wo hast du von dem Blog gelesen / gehört?
    Weiterhin viel Spass beim Lesen!
    Liebe Grüsse
    JULIA

  • #5

    Giorgio (Sonntag, 06 Juni 2021 19:07)

    Kaya hat mich auf dich aufmerksam gemacht.
    Sie ist meine beste Freundin.

  • #6

    JULIA, die Schreibkünstlerin (Sonntag, 06 Juni 2021 19:58)

    Ach so, sehr schön, vielen Dank, Giorgio! Würde mich sehr geehrt fühlen, wenn ich dir immer die neuesten Minithriller direkt in deine Inbox schicken dürfte: https://www.bqt.global/minithrillerhierholen/

  • #7

    Raffi (Sonntag, 19 September 2021 18:06)

    Hei Julia
    Wie immer Genial!
    VG Raffi

  • #8

    JULIA (Montag, 20 September 2021 14:25)

    Daaaanke, Raffi! :-)
    Auch auf YouTube sind die Folgen verfügbar!