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Umweltleichen

Da kommt ja endlich was zu tun. Zwar hat sie sich gefreut, hier in der Kleinstadt ihrem Job gewachsten zu sein, ohne eines vorprogrammierten Burn-Outs, Bore-Out wäre keine Alternative. Die Kollegen hieven den schweren, mit der Leiche gefüllten Sack auf ihren Seziertisch. Leicht sind sie nie, aber die hier scheint ein besonderes Früchtchen zu sein. Obwohl die Transportverpackung professionell geschlossen ist, steigt ihr der strenge Geruch in die Nase, den sie, trotz ihrer Sensibilität, gewöhnt ist. Diese hat ihr oft schon auf die richtige Spur geholfen. Die Evolution hat dafür gesorgt, dass bei ihr die olfaktorischen Sinne wie die eines Schafes ausgeprägt sind. Eben dieses Talent klopft bei ihr an und teilt ihr mit, dass da etwas nicht stimmt. Die verdampfenden Partikel verdichten sich in ihrem Riechkolben und vernehmen sich anders, als sonst. Sie öffnet den Reissverschluss, die helfenden Herren ziehen das Stück Kunststoff unter dem toten Körper weg.

Wieder alleine in ihrem Reich beschäftigt sie sich mit dem Neuankömmling, oder der Neuangekommenen? Anders als sonst ist sogar das gar nicht so flott herauszufinden. Äusserst entstellt ist sie, aufgeschwemmt und dennoch trocken. Oje, das arme Putzpersonal. Sie wird nicht alle Maden und Würmer so schnell umbringen können, dass nicht doch einige zwischenzeitlich auf den sterilen Boden kriechen. Die Insektenvernichtungsmittel sind so intensiv, dass sie sich mit einer dichtenden Maske bewaffnet, um sich vor Frühpension wegen kaputter Lunge zu schützen.
Bis zur Mittagspause findet sie Folgendes heraus: Weiss, männlich, Alter zum Todeszeitpunkt circa 50, schlag auf den Hinterkopf, aber ertrunken, lange im Wasser gelegen, dann an der Oberfläche auf der, dem Boden abgewandten Seite ausgetrocknet wie ein Stück Leder.
Das Essen schmeckt ihr wie immer. Sie lässt sich von nichts und niemandem den Appetit verderben. Zudem kann sie sich Zeit lassen. Statistisch gesehen ist nunmehr mindestens ein halbes Jahr Ruhe, bis ein Kleinstadtbewohner sich erneut wichtig machen und seine verstorbene Oma einer exakten Untersuchung unterziehen will, um sicherzugehen, dass er auf kein, ihm zustehendes Erbe verzichtet. Nach ihrem Spargelrisotto mit Parmesan und grünem Salat aus der Kantine macht sie sich wieder auf den Weg in den letzten, untersten Trakt des Spitalgebäudes. Dieser übernimmt zusätzlich die polizeiliche Forensik, weil sich eine eigene Abteilung aufgrund des geringen Aufkommens, nicht lohnen würde.
Was ihr fehlt, ist der Todeszeitpunkt. Schwierig bei jemandem, der so lange nach dem Ableben baden gegangen war. Abgesehen von biologisch-physiologisch-medizinischen Untersuchungen, sind die Gegenstände und die Kleidung, die er bei sich hat, aufschlussreich. Mit Klamotten schwamm er, als das Wasser in seine Lungen drang. Diese erklären sein Gewicht. Sie sind mit Steinen gefüllt, die Reissverschlüsse gründlich verschlossen. Eine altmodische Kordjacke in verhältnismässig erhaltenem Zustand, eine Glockenhose, ebenfalls mit verschliessbaren Taschen, ein Kunststoffhemd, schwarze Lederschuhe, ein Goldkettchen mit Kreuz. Kein Raub. Klarer Mord, Ertrinken, aber vorher bewusstlos.

Sie ist in Gedanken versunken, als die grosse Türe mit einem Ruck auffliegt und ein weiteres Paket Arbeit herein transportiert wird. Genauso akzeptabel, sie hat dieses Wochenende ohnehin nichts vor. Damit dürfte dann, statistisch gesehen, für ein Jahr wieder Ruhe sein und es wäre ihr möglich, sich um administrative Arbeiten zu kümmern, die schon lange herumliegen.
Es gibt immer eine zusätzlich Reserveliege, auf der die zweite im Bunde liegt. Nach dem Freischälen aus der Transportverpackung ist sofort zu erkennen, dass sie ähnlich entstellt ist. Wir haben wieder einen Mann. Etwas jünger. Dieser hier ist aber nackt baden gegangen. Es ist anzunehmen, dass Besagtes unfreiwillig geschah, weil jemand, der sich der Kleidung entledigt, schwimmen kann und dies zudem nicht im Winter macht. Kleine Eiskristalle hatten Verletzungen in mikroskopischer Grösse auf seiner Lunge hinterlassen.
Diese Erkenntnisse dauerten einige Zeit, nachdem die massive Feuertüre erneut auffliegt und eine Sendung gleicher Art geliefert wird. Oh nein! Was ist nur los? Sie ist gezwungen, den Klapptisch aufzustellen. Diesen hatte sie noch nie gebraucht. Er sollte für Katastrophen benutzt werden. Erdbeben, grosse Feuer, Überschwemmungen.
Eine Frau, wieder Mord.
Das Spiel wiederholt sich am nächsten Tag. 3 weitere tote Personen zur Begutachtung. Es werden mittags Leute geschickt, um zu improvisieren. Der Lagerraum wird umfunktioniert, die Kühlschränke erst mal belegt.
Der dritte Tag verläuft ähnlich.
11 Leichen sind am vierten Tag in der Mittagszeit in ihrer Abteilung zu verzeichnen. 4 davon hat sie gründlich untersucht. Eine erst mal oberflächlich. Überstunden waren nötig. Schliesslich sind sie frisch am besten und wenn das so weitergeht, platzen bald die Kühlschränke aus sämtlichen Nähten.
Ihre Neutralität schwankt. Es ist klar, dass alle nass waren. Es ist ebenfalls als erwiesen anzusehen, dass die meisten ertranken. Im Übrigen stehen sie kaum auf der Vermisstenliste der vergangenen Monate. Was ist hier los? Sie will mehr wissen! Wo sammeln sie die Leute ein? Voreingenommen hin, oder her, aber das hier? Grübelnd stochert sie am Hühnerflügel herum und schiebt das Risotto hin und her.
Nach dem Kantinenaufenthalt kontaktiert sie die Kommissarin. Diese drückt herum, will nichts preisgeben. Wenn sie wenigstens zeitgleich starben. Aber der Todeszeitpunkt klafft um Jahre ausenander!
„Ich verstehe ja ihren Arbeitsethos, aber das ist wohl mal etwas anderes!“
Die Polizeiangestellte legt eine 10-sekündige Pause ein, bevor sie antwortet:
„Nichts werden sie erfahren, was sie nicht wissen dürfen, aber ich komme am Nachmittag bei ihnen vorbei.“
„Sehr freundlich, ich freue mich! Bis später!“
„Bis später.“
Erst uninteressiert und in diesem Moment ein persönliches Gespräch? Was soll die Geheimniskrämerei? Nicht mal die Presse war informiert worden, sie hat in der Früh und gestern nichts in der Tageszeitung darüber gefunden.
Beim Eintreffen der Kommissarin, haben sich ihre Erkenntnisse bestätigt: Wasser- und Moorleichen, meist eindeutige Morde, eine Info, von der sie ausgegangen war, welche sie aber dennoch mit Informationen ihrerseits belohnte:
„Sie kommen alle aus dem Moor und dem See vom Stadtrand. Beide sind in den letzten Jahren signifikant ausgetrocknet. Die Leute waren mal vor langer Zeit vermisst worden. Angehörige aus finanzschwachen Kreisen, Kleinverbrecher, die der Mafia zum Opfer fielen. Einst waren diese beiden Gewässer sichere Verstecke. Nun gibt sie die Natur wieder frei.“
„Umweltleichen.“

 

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