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Waldkreaturen

Wie angewurzelt bleibe ich stehen. Hat sich etwas bewegt oder nicht? Ich konzentriere mich auf die leicht welken Blätter. Sie bewegen sich kein Bisschen. Deshalb hängt immer noch dieser Nebel hier im Wald hinter den Felsen. Da: Schon wieder. Komplett alleine bin ich hier. Niemand wird mich schreien hören. Rechts ist diese hohe Felswand, gegenüber ist ein Hügel im Dickicht vernehmbar, was eine Mulde bildet. Ich bin auf halben Weg in diese hineingegangen. Hier stehe ich, sehe nicht, ob jemand um mich ist, oder weiter im dichten Wald hinter dieser Senke, welche nur von etwas Jungwald bedeckt ist. Es scheint hier niemals eine Menschenseele herzukommen. Dennoch vernehme ich zwischen den saftigen, dünnen Baumstämmchen menschliche Spuren: ein Zelt.

Neugierig war ich, das werde ich bereuen. Ich bin den Forstweg immer weitergegangen. Bis er zu Ende war. Geradeaus stiess ich auf eine steile Felswand. In dieser vernahm ich ein Loch. Ein grosses. Vergittert. Je mehr ich darauf zuging, desto bedeutungsvoller erschien die dunkle Mulde. Eine Höhle. Schliesslich hatte ich so aufgeschlossen, dass ich Rauschen hörte. Seltsam. Dann war ich so nahe, dass ich die kalten Gitterstäbe zu fassen bekam. Rostig, rau. Die Handschuhe hatte ich wieder ausgezogen und in die Taschen des langen Mantels gesteckt. Die Bewegung hatte für durchblutete Finger gesorgt. Rückwärts von mir schloss sich nur die bodennahe, herbstliche Luftfeuchtigkeit. Weil es leicht bergab gegangen war, war nicht auszumachen, ob jemand hinter mir hergekommen war. Ich steckte den Kopf zwischen die Gitterstäbe. Ein Aufschrecken: Plötzliche Luftzüge kamen an meinen Ohren vorbei. Erschreckte Fledermäuse. Uff. Das Geräusch kristallisierte sich klar in der eisigen Kälte, die sich auf den Wangen festgesetzt hatte, heraus: Fahrzeuge. Da unten war ein Tunnel, der die Autobahnstrecke erheblich verkürzte.

Meine Neugierde wurde geweckt und ich stieg rechts von diesem Schacht einen kleinen Pfad im Wald nach oben. Da stehe ich inzwischen.

Ob die Campingbehausung von einer flüchtenden Person ist? Oder einer Pennerin. Was weiss ich. Jedenfalls mag ich die Situation nicht. Bevor ich auf diese Verkehrsnotausfahrt zugesteuert war, waren andere Spaziergängerinnen in eine Richtung in 180 Grad abgebogen. Da hinten war Sonnenschein gewesen. Die Felder waren von Familien mit Kindern bevölkert gewesen. Ich hatte Ruhe gesucht. Aber so viel davon? Beziehungsweise eher zu wenig? Wer kann, oder würde mir etwas antun? Kaum die Füchse, die hier seit Generationen leben. Mutierte Eichhörnchen, die in meiner missgeleiteten Phantasie aufpoppen, muten lächerlich an. Wölfe haben wir ausgerottet. Bären dito. Luxe sind zu scheu. Ausgesetzte Hunde gibt es in der Gegend nicht. Es ist die eigene Spezies, die zur Gefahr werden könnte. Spuren hat diese hinterlassen. Wo ist es, das Verhängnis? Der Mensch. Oder versteckt sie sich vor mir als potenziellen Feind? Problemlos hätte es die Person geschafft hinter mir herzuschleichen. Als ich auf das Autobahnrauschen achtete, nahm ich keine Notiz von Geräuschen. Inzwischen bin ich aber völlig fokussiert: Jedes kleinste Knacksen ist zu hören, alle Windstösse. Sich bewegende Fliegen in meinem Augenwinkel schwellen zu angreifenden Hubschraubern an. Der sich verändernde Geruch von aufgeweichter Erde hin zu menschlichem Müll macht mich misstrauisch. Die Haut ist von kleinformatigen, aufstehenden Pünktchen übersäht. Ich wische mir über die Lippen und schmecke das Fell einer streunenden Katze, die ich vorher streichelte. Auf jede Seite starre ich. Ob mich die Sinne täuschen? Alle Richtungen scanne ich genauestens ab. Wie auf der Jagd, wie wenn das Leben davon abhinge. Nichts ist zu vernehmen. Absolut null.

Langsam drehe ich mich um. Mein Interesse am Zelt schwindet. Ich will hier weg. Ich begebe mich zurück auf den ausgetrampelten Pfad. Dem folge ich, in der Hoffnung, wieder auf Spaziergängerinnen zu treffen. Nach Zivilisation sehne ich mich. Ein paar Mal drehe ich mich um, um sicherzugehen, dass mich keine Waldbewohnerin verfolgt.

Ich komme nicht weit. Ich stehe vor Steinhügeln. Jetzt scheinen Bewegungen unmöglich. Wie die Elemente der Hügel verhalte ich mich, wie die Wasserzufuhr der Bäume werde ich am Boden gehalten. Wahrhaftig. Eine Kreatur. Weiss. Etwas zerfetzt. Wie eine Art Nachtgewand. Dieses schlängelt sich über ihren Körper. Transparent ist er. Die schütteren Haare fallen dünn auf die Schultern. Das Gewand weht um die Hüften. Der Blick ist eisig und starr. Die Sandalen müssen doch zu kalt sein für die Jahreszeit. Noch jemand. Gleiche Statur, dieselbe Bekleidung, nur einen Kopf kleiner. Sie fassen sich an den Händen. Weitere solcher bizarrer Paare tauchen aus dem Nichts auf. Eine Familie kommt dazu. Diffus. Wollen sie etwas von mir?

Ob sie aus den 1800 Jahre alten römischen Gräbern kommen? Diese gibt es hier verstreut. Viele dieser Siedlungen gab es hier in Mitteleuropa damals. Die Leute hatten nach ihrem Ableben Grabbeigaben bekommen. In Familienverbänden waren sie unter der Erde wieder vereint worden. So sorgfältig waren die Felsteile übereinandergestapelt worden, dass sie im 21. Jahrhundert als kleine Bauwerke menschlichen Zutuns identifiziert wurden.

Faszinierend, erschreckend, wie mein Verstand mit Informationen aus der Geschichte spielt. Chemische Substanzen im Gehirn, die sich ihre absonderliche Wirklichkeit zimmern. Hervorgerufen durch eine legale oder doch illegale Industrie? ... die eigenen Gedanken? Fokus! Flucht? Nein, die Wissbegierde ist grösser als der Fluchtinstinkt. Meine Augen verengen sich, die Pupillen weiten sich. Mordende Eroberer, vergewaltigende Söldner aus Rom blitzen auf. Die Toten hier: eine friedliche Gesellschaft. Sie hatten um ihre Angehörigen getrauert. Die Infotafel, die die Erkenntnisse jüngster Ausgrabungen zusammenfasst, lässt die Geschichte klarer erscheinen.

Über jahrtausendealte Eroberungen, neueste Einmärsche, die Sinnhaftigkeit von Unterwerfung, nicht dagewesene, sowie ältere Kriegsspiele sinnierend, setze ich meinen Waldspaziergang fort und verlasse dann wieder den Nebel und die Einsamkeit.

 

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